FAQ zur Zuchtwertschätzung
FAQ zur Zuchtwertschätzung Dr. Reiner Beuing Tierzucht und angewandte Genetik, Gießen Antworten zu einem Leserbrief im Boxerklub, in dem die Frage gestellt wurde, warum man die Zuchtwerte als Züchter nicht nachrechnen kann. Ist ZWS nur für Mathematiker? Natürlich ist die Zuchtwertschätzung für Nichtmathematiker gedacht. Für praktizierende Tierzüchter soll sie eine Entscheidungshilfe darstellen, ohne dass sie selbst umfangreiche Recherchen in Zuchtbüchern oder Clubzeitungen anstellen müssen und auch ohne auf Schmäh oder Anpreisungen reinzufallen. Zuchtwertschätzung hat sich methodisch von recht einfachen Methoden zu komplexen statistischen Verfahren hin entwickelt. Ursprünglich diente sie den Rinderzüchtern dazu, die Milchvererbung von Bullen abzuschätzen. Wie man weiß, geben ja Bullen keine Milch, ebenso wie Hündinnen nicht kryptorchid sein können oder Rüden keine Kaiserschnitte brauchen. Die ersten „Schätzungen“ waren, dass man annahm, dass Bullen aus guten Müttern besser vererben als solche von schlechten Müttern. Man merkte aber an den Töchtern der Mütter, dass man nicht die Überlegenheit der Mütter vollständig anrechnen durfte, sondern nur einen Teil, entsprechend dem Erblichkeitsgrad. Man sah, dass z.B. alle Kühe, die 1000 Liter mehr Milch gaben als der Rassedurchschnitt, Töchter mit einer Durchschnittlichen Überlegenheit von nur ca. 125 Litern hatten. Kühe mit 1000 Litern Überlegenheit hatten somit im Durchschnitt nur Erbanlagen für 250 Liter Milch. Wenn diese dann zur Hälfte an die Nachkommen übertragen werden, bleiben 125 Liter übrig. Der Erblichkeitsgrad für Milchleistung ist etwa 0,25 bzw. 25%. Was für Töchter gilt, gilt auch für Söhne. Daraus ergab sich die erste Formel für die Abschätzung des Zuchtwertes: man nimmt die Überlegenheit der Mutter, multipliziert sie mit der Erblichkeit und dem Verwandtschaftsgrad Mutter-Sohn und erhält einen Zuchtwert: Zuchtwert= (Mutterleistung-Rassedurchschnitt) x Erblichkeit x 0,5Oder wenn man den Zuchtwert der Mutter selbst sucht, gilt Zuchtwert=(Eigenleistung-Rassedurchschnitt) x Erblichkeit x 1,00. Den Wert 1,0 setzt man ein, weil das leistungsgeprüfte Tier mit dem Tier, dessen Zuchtwert man sucht, identisch ist. Zu solcher Zuchtwertschätzung braucht man nicht einmal einen Taschenrechner. Nun kommt sofort die Kritik an diesem simplen Verfahren: Ein Jungbulle hat ja nicht nur eine Mutter! Wenn vom Vater schlechte Genetik kam, ist trotz guter Mutter sein Zuchtwert möglicherweise schlecht. Zugegeben, das Wissen, wie gut die Mutter war, ist immerhin etwas, aber wüsste man auch über die Vaterseite mehr, dann könnte der Zuchtwert sicherer sein. Immerhin kennt man die Milchleistung von Vaters Mutter, wenngleich diese Großmutter nur noch ein viertel verwandt mit dem Jungbullen ist. Doch das ist immerhin besser als keine Information und so bringen wir die zwei Seiten zusammen: Zuchtwert=(Mutterleistung-Rassedurchschnitt) x Erblichkeit x 0,5 + (Vaters Mutterleistung— Rassedurchschnitt) x Erblichkeit x 0,25 Ein Beispiel dazu: Der Rassedurchschnitt lag 1950 bei 5000 Litern Ein Jungbulle auf der Körung hatte eine Mutter, die 7000 Liter gab und die Mutter des Vaters gab 8200 Liter Milch. Bei einer Erblichkeit für Milchleistung von 25% ist der ermittelte Zuchtwert des Bullen: 2000 x 0,25 x 0,5 + 3200 x 0,25 x 0,25 = 250 + 200 =450. Von vielen Bullen, die eine solche Ahnenleistung haben, kann man im Durchschnitt erwarten, dass sie genetische Überlegenheit für eine Milchleistungssteigerung von 700 Liter haben und deshalb wird auch dem einzelnen Bullen dies als Zuchtwert zugeschrieben. Der nächste Schritt in der Begehrlichkeit nach besserer Information war die Kontrolle der Töchter des Vaters. Diese charakterisieren den genetischen Beitrag des Vaters zum Zuchtwert des Jungbullen ja viel besser als Vaters Mutter, denn es sind viele Informanten, die schließlich mit dem Vater genauso verwandt sind (0,5) wie seine Mutter. Man kann Mutter und Töchter zu einem Durchschnitt zusammenfassen, die Überlegenheit gegenüber der Rasse bestimmen, und dann die Aussagekraft berechnen. Die Formel für den Multiplikator ist 2n/(n+k), dabei ist n die Zahl der Informanten und k ist eine Konstante, die für die Erblichkeit und den Verwandtschaftsgrad der Informanten untereinander typisch ist. Die Formel ist k=(4-Erblichkeit)/Erblichkeit bei einer Erblichkeit von 0,25 ist diese Konstante 15. Wenn nun der Vater des Bullen 29 geprüfte Töchter hat, die Mutter mit ihrer Leistung als 30. einbezogen wird, dann ist der Multiplikator 60/(30+15) bzw. 1,333.Wenn durch den Töchterdurchschnitt herauskommt, dass er 600 Liter über dem Rassedurchschnitt ist, dann gilt für den Zuchtwert des Vaters 1,333 x 600, das heißt ein Zuchtwert von 900 Litern. Da der Sohn nur die Hälfte der Erbanlagen des Vaters besitzt, erwartet man sich 450 Liter von der Genetik der Vaterseite, statt 250 wie im erstgenannten Beispiel, in dem nur Vaters Mutterleistung einbezogen war. Der mathematisch interessierte Leser mit Tüftler-Mentalität kann prüfen, ob die Durchschnittsformel mit 0 Töchtern und der einen Mutter das gleiche Ergebnis bringt wie die Formel mit Mutterleistung. Richtig kompliziert wird es, wenn zwei Informationen vorliegen, die viel gemeinsam haben, z.B. Mutter und Mutters Mutter, denn die Genetik von Mutters Mutter steckt zur Hälfte bereits in der Genetik der Mutter und die Mutter kann nicht weitergeben, was sie von ihrer Mutter nicht mitbekommen hat. Und da bleibt die Frage nach Töchtern, die Vollgeschwister sind, ob sie von guten oder schlechten Müttern sind, nach anderen Verwandten 2. und 3. Grades, nach Umwelt-Handicaps bei der Leistung usw. Für jede Struktur der Verwandten müssten korrekte Multiplikatoren bzw. Formeln konstruiert werden und da jedes Tier eine andere Anzahl von Verwandten mit unterschiedlichem Verwandtschaftsgrad hat, wäre für jedes Tier eine eigene Formel zu erarbeiten, was praktisch unmöglich ist. Die Rinderzucht hatte sich also lange darauf beschränkt, nur Töchter als Information zu verwenden und durch künstliche Besamung eine repräsentative Anpaarung (Testeinsatz) zu organisieren. Damit waren viele Probleme gelöst. Einfache Formeln waren anwendbar. Dass dies in anderen Tierarten nicht möglich ist, schon gar nicht beim Hund, ist einleuchtend. Daher haben auch in den 70er Jahren vorgeschlagene Nachkommenprüfungen für Deckrüden wenig Sinn und geringe Akzeptanz gehabt. In diese Entwicklung stießen zwei weichen stellende Innovationen. Henderson schlug zur Zuchtwertschätzung einen analytischen Ansatz vor. Für jedes Tier wurde das zustande kommen der Leistung analysiert und in einer Gleichung definiert. Für den Hodenstatus eines Hundes beispielsweise: Der Hodenbefund ist das Resultat aus der Rassedisposition plus einer genetischen Anlage, die aus dem individuellen Genotyp des Tiere kommt, plus einem Handicap aus der Wurfgröße plus einem Handicap aus der Jahreszeit plus…. usw. (plus einer Summe anderer Einflüsse, die keiner genau kennt).